Haben oder sind wir Kultur? Von einem Volk, das sich für was Besonderes hält

Gern halten wir Deutschen uns ja für ein Kulturvolk. Und begründen damit teilweise absurde Forderungen an Zuwanderer. Einbürgerungstests enthalten hochgradig schwierige Fragen, an denen selbst so mancher Professor scheitern dürfte. Aber sind wir wirklich so gebildet, wie wir behaupten? So kultiviert, wie wir uns geben? Lesen wir unseren Schiller und hören wir unseren Bach? Kennen wir den Unterschied zwischen Im- und Expressionismus? Und was sagt die digitale Generation dazu? Insbesondere Taylor Swift? Lest hier nach, wie wenig wir wissen und wie viel wir behaupten. Und freut Euch darüber – oder seid erleichtert. Oder beides.

Text ursprünglich erschienen 2016

Kultur

Gibt es eine deutsche Leitkultur? „Wo hinein“ sich die Migranten integrieren können? Was soll das sein? Samstags morgens einkaufen, wenn alle einkaufen? Schlechte Laune haben? Keine Kirchensteuer zahlen, aber Heiligabend feiern?

Vielleicht gab es ja mal so eine deutsche Kultur. Bier, Wein, Kartoffelgerichte, strenge Lehrer, klassische Musik, Hochliteratur. Saubere Straßen, öffentliche Ordnung, Volksmusik. Hm.

Der Philosoph André Glucksmann bezeichnet Dummheit als Resultat der Diktatur. Seine These: Der Faschismus hat uns unserer Kultur beraubt. Nach einer Diktatur will keiner mehr irgendetwas. Das ist dumm.

Wir haben Kultur doch aufgegeben, aus mehr oder weniger guten Gründen. Vor allem, weil uns das immer zu anstrengend war. Kultur hieß ja auch meistens: zusammenreißen. Umziehen. Aufstehen. Irgendwo hingehen. Sich konzentrieren. Puh.

Kultur. Ist bei uns doch nur noch ein Spartenprogramm. Digitale Sonderkanäle auf Programmplatz 32-47. Noch hinter den russischen Nachrichtensendern.

Kultur ist Doku. Was nicht jetzt gerade läuft, sondern schon vorbei ist. Ruinen. Denkmäler. Sowas. Aldi-Toast…. Irgendwas Abgelaufenes.

Kultur ist alles, was alt ist. Beethoven, Goethe. Uschi Glas. Sowas.

Kultur ist alles, was keiner versteht. Schlingensief, Joseph Beuys, Grönemeyer. Sowas.

Zum Beispiel: Klassische Musik – wissen alle hier, was das ist? Es geht jetzt nicht um „Stairway to heaven“ oder so. Ich rede jetzt nicht von sowas wie… Oldies. In dem Sinne. Klassische Musik ist noch viel älter. Älter als Udo Lindenberg. Ja! Das geht!  Wir reden von Typen, die schon lange keine neuen Alben mehr rausbringen: Mozart, Beethoven, Purcell, ja, und vor allem: Bach.

Das ist eine völlig andere Welt, die jungen Leute können sich das ja gar nicht mehr vorstellen. Diese Musiker sind damals nicht irgendwie einfach mit 17 mit ihrer Gitarre um die Häuser gezogen und ham Weiber abgeschleppt.

Das waren hoch qualifizierte Musikbeamte. Die wurden bei Hofe eingestellt und bezahlt. Gewissermaßen Regierungsmusiker. Systemtragend. So wie…, ja, Dieter Bohlen. Die haben auch so am Fließband geschrieben wie der. Allerdings etwas komplexere Werke…

Z.B. sind die Stücke alle ellenlang. Is echt anstrengend. Wenn Du Dir so ein klassisches Musikstück runterladen willst, brauchst Du viel Geduld. Und nen Breitband – Anschluss. Also: Richtig breit. So lang sind die.

Man muss dann auch zuhören. Sich darauf konzentrieren. Man kann dabei meistens nicht mitsingen. Gibt auch keine Werbung zwischendurch oder so.

Das ist natürlich alles schwierig für die Jugendlichen heute. Die sind ja ganz anders getaktet. Wenn man den Fernsehmachern glauben darf, schaltet das Gehirn der 14 – 20jährigen heute ja schon nach anderthalb Minuten ab.

Die haben offenbar so ne Funktion wie mein Computer. Wenn man da die Festplatte nicht stimuliert, fährt die auch irgendwann runter. In den sogenannten Ruhezustand. Allerdings erst nach 8 Minuten.

Zu kompliziert darf die Musik für die Kids deshalb auch nicht sein. Die halten ja einen Klingelton schon für polyphon.

Von der Instrumentierung her ist klassische Musik aber oft sehr aufwendig. Ganz oft mit großem Orchester. Und eben auch viel mit Chor. Alle schwarz gekleidet. Hochgeschlossen. Alles sehr unsexy. Besonders in der Kirche.

Kirche? Wissen alle hier, was das ist? Eh… war? Na, erkläre ich gleich nochmal.

Live passiert bei klassischer Musik jedenfalls fast gar nichts. Das Publikum wird zur Kenntnis genommen, mehr nicht. Da fragt keiner „How do you feel?“ oder sowas. Keine Transparente „Ich will ein Kind von Dir“ oder so. Höchstens in der katholischen Kirche. Da halten ja oft Leute Transparente hoch mit der Aufschrift „Ich bin ein Kind von Dir“.

Ansonsten: No Action. Die Ordner müssen niemanden ohnmächtig aus der Menge ziehen. Und wenn, dann nur wegen Altersschwäche. Zwischenapplaus ist total verpönt. Und Autogramme vor der Garderobe, After Show Party im angesagtesten Club der Stadt, so ne Mozart Session mit den geilsten Cellisten des Landes oder so – is alles nicht.

Klassische, sogar geistliche Musik kann aber wirklich trotzdem sehr schön sein. Sogar lustig. Ich habe mal eine Aufführung gesehen der Matthäus-Passion von Schütz. Ich muss es kurz erklären – Matthäus-Passion. Dass ist nicht die Lebensgeschichte des deutschen Fußballrekordnationalspielers.

Es geht um die Kreuzigung von Jesus Christus, …. Ich glaube, der ist bekannt. Von der Geschichte gibt es ja verschiedene Coverversionen. Unter anderem auch von Matthäus. Der Nachname ist nicht bekannt. Das war ein Schriftsteller aus dem Nahen Osten. Dessen Text hat wiederum Heinrich Schütz vertont, ein deutscher Komponist aus dem 17. Jahrhundert…. Naja, was heißt deutsch. Der war aus Sachsen.

Der hat das Stück ganz ohne Orchester haben wollen, damit es nicht zu viel Spaß macht. Sollte ja ne Passion sein. Also, alle sollten leiden. Auch die Zuhörer. Damals galt a cappella noch nicht als lustig. Sondern als besonders trist. Geht mir ja bis heute so….

In dieser Aufführung wurde ich damals abgeschossen. Die Situation: Tiefe religiöse Rührung, nicht allein, in der Gruppe. Eine schlimme, brutale Leidensgeschichte, voll Folter und Grausamkeit. Getragener Gesang, oh Haupt voll Blut und Wunden und so…

Und dann steht plötzlich einer auf wie von der Tarantel gestochen und singt: „Und alsbald krähte der Hahn!“ Und setzt sich wieder hin.

Ich habe das hinterher überprüft. Es war alles richtig. Es war der Tenor. Der sang das Rezitativ, also die Rahmenhandlung. Und: Es war alles korrekt, der Text ist original, der Einsatz kam zur richtigen Zeit, die Intonation, alles richtig.

Nur die Komik war unfreiwillig.

Klassische Musik existiert heute kaum noch in der deutschen Öffentlichkeit. Weltweit ist natürlich nun seit Jahrzehnten nunmehr Rock und Pop angesagt. Es gehört zum Wesen dieser Musik, dass sie kurze Stücke hervorbringt. 3,30 max. höchstens drei Strophen, ein Solo, eine Bridge, Refrain, fertig. Also, da kann jeder folgen. Das ist praktisch. Das geht auch in der Waschstraße oder im Aufzug. Und man kann mal Werbung machen zwischendurch. Oder eine Station ID. „Ihr hört Radio Energy“. ICH! WEISS! WELCHEN! SENDER! ICH! ANGESTELLT! HABE! DENN! ICH! HABE! IHN! ANGESTELLT!

Gut, nicht bei Energy. Dieser Scheiß läuft nur im Auto. Immer, wenn ich einsteige. Weil meine Frau den immer hört. Und ich muss dann immer ganz hektisch nach dem Anlassen ganz schnell irgendeine Taste drücken, damit der Dreck aus meinem Ohr verschwindet. „Ihr hört Radio Energy“- das steht übrigens ja auch noch im Display. Mann, wie blöd muss man sein, um gesagt bekommen zu müssen, welchen Sender man hört. Diesen Menschen muss man auch sagen, in welchem Zug sie sitzen und dass sie keine Hose anhaben. Also ehrlich.

Anders als bei klassischer Musik gibt es inhaltlich bei Popmusik keinerlei Konsequenzen. Es werden keine großen Geschichten mehr abgebildet, keine Dramen, keine Urkonflikte. Pop ist subjektiv, es geht ums poppen wollen. Oder ums gerade nicht poppen können. Frauen nennen das Liebeskummer.

Nach einer fachlichen Qualifikation des Verfassers fragt ohnehin keiner, sein persönliches Leid reicht völlig aus. Seit fünf Jahrzehnten überziehen deshalb daher gelaufene Gitarrentrottel die Weltgeschichte mit ihrem eigenen überwiegend sexuellen Senf. Hier nicht von wegen, ewige Verdammnis, oh, wir müssen alle in der Hölle schmoren in Ewigkeit… Nööö. Sondern: jammer jammer, meine Frau hat mich verlassen.

Was heißt hier meine Frau. Wir reden von Rockern. Also, die Botschaft lautet: Dieses geile, kleine blonde Ding, das ich da völlig breit, irgendwie nach dem Gig in diesem Schuppen bei Minneapolis aufgerissen habe, is gerade aus unserem Tourbus ausgestiegen. Scheiße, muss ich mir für die Rückfahrt nachher ne andere suchen.

Da muss man auch kein Kulturpessimist sein, um festzustellen: Die textliche Qualität ist dabei durchaus gravierend anders.

„Oh meine liebe Seele, sprich, wo willst Du endlich hin?“ ist eine wunderbar klingende Formulierung. Vergleichsweise unpoetisch dagegen klingt: „Eh…Ehh… I´m your Pusher…“.

Ich bin dein Drücker. Naja.

Ist vielleicht auch ne Altersfrage, dass ich mich da jetzt wieder mehr für interessiere. Für klassische Musik. Ist einfach angemessen. Man kann sitzen beim Konzert. Ich bin jetzt über 40 – ich habe auch keinen Bock mehr, mit Bier übergossen oder rumgeschubst zu werden.

Und man genießt Musikstücke mit einer Laufzeit von über sieben Minuten. Das vermittelt einem selbst das Gefühl, man hätte noch Zeit.

Klassik hat eine Antwort auf die Frage nach dem Tod. Pop nicht.