Schwindelfrei? Vom Nervenkitzel und der Faszination der Höhenangst

Höhenangst ist eine tief in uns verwurzelte Urangst – und sie bietet überraschende Einblicke in die menschliche Psyche. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das an Orten wie der „Sagrada Familia“, deren Türme mit engen Treppen und luftigen Höhen die perfekte Bühne für schweißtreibende Momente bieten. In diesem Ausflug erlebt Ihr die Höhenangst aus der Sicht eines Erfahrenden – mit spannenden Einblicken und einem Augenzwinkern, das zeigt, wie sich Angst und Faszination oft die Hand reichen.

Text ursprünglich erschienen 2012

Angst vor der Höhe

Höhenangst ist eine der genetisch fest verankerten Urängste des Menschen. Wir spüren sie, weil einer unserer Vorfahren sich irgendwo zu weit vor- oder hochgewagt und dann das Gleichgewicht verloren hat. Und die Angehörigen feststellen mussten: „Jetzt ist Vati zu nichts mehr zu gebrauchen. Der liegt ab jetzt nur noch sinnlos in der Gegend rum.“ Das kennen Sie vielleicht auch vom häuslichen Wohnzimmer. Damals aber haben die Kinder dann irgendwann beschlossen, es nicht so zu machen wie Vati. Nichts zu riskieren, sondern lieber Angst zu haben. Er war also ein gutes Vorbild!

Das Wort „Höhenangst“ ist zugegebenermaßen nicht sehr präzise. Es handelt sich ja eher um das Gegenteil – um die Befürchtung, irgendwo hinunterzufallen, also eher um eine Angst vor dem Aufprall. Der in aller Regel ja nicht in der Höhe stattfindet, sondern zu ebener Erde. Präziser wäre der Ausdruck „Tiefen-“, „Aufprall-“ oder „Klatschangst“.

Dieses Gefühl äußert sich oft schon auf Vorrat, also unten im Tal. Dann kommt man gar nicht erst hoch. Weswegen sich mancher weigert, den Mount Everest zu besteigen. Oder seine Schwägerin. In beiden Fällen erscheint dem Betreffenden das Risiko zu groß, also die sogenannte Fallhöhe.

Insbesondere Männer bemerken allerdings ihr Problem oft nicht vorher, sondern erst am Ende des Weges – wenn sie sich bereits oben befinden. Und dann schaffen sie es nicht wieder zurück. So entstand beispielsweise der Beruf des Leuchtturmwärters. Oder des Witwentrösters.

Es gibt zahlreiche Orte, an denen man Höhenangst erfahren kann, wie den „Skywalk“ im Grand Canyon oder „Burdsch Chalifa“ Dabei handelt es sich nicht um eine exotische Wasserpfeife, sondern um den momentan höchsten Turm der Welt, welcher sich in Dubai befindet.

Wir empfehlen allerdings eine näher liegende Lokalität: Den Besuch der „La Sagrada Familia“ in Barcelona. Diese Kathedrale liegt in einer Senke, mitten im Verkehr, zudem direkt neben Pizza Hut und anderen nachzivilisatorischen Einrichtungen. Sie ist eines der in Barcelona zahlreich vorhandenen Gaudi-Bauwerke.

Gaudi ist hier keineswegs mundartlich zu verstehen; es gibt keinen Zusammenhang mit Bayern oder dem Oktoberfest. Die Rede ist von Antoni Gaudi, einem der unstrittig begnadetsten Architekten aller Zeiten. Seine Ideen sind oft atemberaubend. Und eigenwillig. Es handelt sich um eine spanische Spielart des Jugendstils. Beispielsweise verfügt La Sagrada Familia über eine sogenannte „neukatalanische Fassade“. Man nennt diese Bauweise landläufig „expressionistischer Symbolismus“. Alles sieht aus wie in Schlumpfhausen. Die Türme erinnern an eine Art Tropfstein, „La Sagrada Familia“ wirkt wie eine auf links gedrehte Nasennebenhöhle. Anders formuliert: Gaudi-Türme sind eine Mischung aus Stalagmit und Popel. Sehr organisch.

Diese Türme sind 115 Meter hoch. Theoretisch kann man von dort das Meer sehen. Das tut nur keiner, weil man dort oben anderweitig beschäftigt ist. Aber dazu später.

Das Besondere: Die beiden Türme verjüngen sich nach oben, laufen also spitz zu. Beim Weg hinauf wird die Treppe enger und enger. Die Fenster kommen näher. Was heißt Fenster, es handelt sich eher um Scharten. In hochkant – länglicher Form, damit man auch durchpasst. Der Wind weht heftig. Gott bläst auf diesem Turm wie auf einer Flöte. Und die Menschen im Innern sind die Finger, die die Löcher verdecken – oder aber nicht.

Besonders bemerkenswert ist allerdings der Moment, wenn einem dieses Gefühl derart unangenehm wird, dass man unbedingt umkehren will. Und feststellen muss: Das geht nicht. Das ist zu eng. Man kann nicht in einem von den beiden Türmen hinauf und wieder hinunter. Hinter einem sind jetzt auch schon Dutzende von anderen Leuten, die auch nicht mehr umkehren können. Erst in diesem Augenblick bemerkt man auch, dass einem ja in der ganzen Zeit noch niemand entgegengekommen ist. Das ist eine in dem Moment bedrückende Erkenntnis: Es gibt offenbar nur einen Rauf- und einen Runter-Turm. Das hätte man gerne vorher gewusst. Jetzt aber heißt es: weitergehen. Höher gehen! Das nennt der Fachmann Konfrontationstherapie.

Das Gehirn ist eine faszinierende Sache. Ausgerechnet in diesem Moment fällt einem natürlich alles ein, was man im Reiseführer gelesen hat: Für diese Kathedrale gab es nie einen definitiven Bauplan. Gaudi habe viel improvisiert, hieß es dort. Der war ein halber Freejazzer, der hat kein Ende gefunden. Der Bau wurde 1882 begonnen und ist bis heute unvollendet.

Das ist der Konflikt, den das Gehirn in dem Moment zu bewältigen versucht: Was wäre, wenn. Was wäre, wenn der Turm, den wir gerade hinaufsteigen, der Teil ist, der noch nicht fertig ist? Oder was ist, wenn es gar keinen Runter-Turm gibt? Dann kommt man oben an und tritt ins Leere! Dann stürzt Du ab – und landest im Pizza Hut. Als Cheesy Crust Tourist. Lecker.

Im Nachhinein allerdings wünscht man es sich, es wäre so gekommen.

Denn die Wirklichkeit ist schlimmer. Wenn man sich nämlich den Turm hinaufgequält hat, darf man feststellen: Zum Runter – Turm führt ein quasi geländerloser, maximal zwei Meter breiter Steg. Und die Fallböen zwischen zwei solchen bleistiftspitz zulaufenden Türmen sind phänomenal, insbesondere in einer Senke, gerade in einer Stadt, die am Meer liegt, und nicht umsonst einen riesengroßen Segelhafen ihr Eigen nennt. Da stehst Du blank. In 115 Metern Höhe. Und fühlst Dich wie im Ausguck. Kurz vor dem Kielholen.

Die meisten Besucher robben bleich und auf den Knien von einer Seite des Übergangs zur anderen. Und klammern sich dabei aneinander fest. So wird auch die insbesondere auf Fußballplätzen inzwischen legendäre „Raupe“ entstanden sein.

Irgendjemand meinte, dies sei Gaudis Intention gewesen: Den Menschen mit diesem sadistischen Architekturkonzept zur Demut zu zwingen. Genau wie beim Free Jazz – da dauern die Soli bekanntlich auch so lange, bis das Publikum weint. Was soll ich sagen: Das funktioniert. Von dieser Besteigung sind bisher alle in tiefer innerer Einkehr zurückgekommen.

Wahrscheinlich nennt man die beiden deshalb auch die Passionstürme.

Ihr seht: Hier kommt Freude auf. Selten gibt es Gelegenheit, sich selbst so leicht zu gefährden. Vor allem, da sich als Hauptsymptom der Höhenangst paradoxerweise vor allem Schwindelgefühl zeigt – eine physische Reaktion, die ihrerseits wiederum die Absturzwahrscheinlichkeit deutlich erhöht. Da kommt Freude auf! Genießt die Reise. Oder, wie der Esoteriker sagt: „Lasst Euch fallen!“

Hat Euch „Höhenangst“ gefallen?

In meinem Buch „Die 33 tollsten Ängste – und wie man sie bekommt“ findet Ihr weitere schöne Sorgen und Befürchtungen zum Nachlesen.